Balkan Lektüre

Karl Kraus und „Die letzten Tage der Menschheit“, kroatische, albanische und montenegrinische Autoren begleiteten uns während des Balkan Monats ...


"Die letzten Tage der Menschheit" von Karl Kaus

ist eine „Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog“. Sie entstand in den Jahren 1915 bis 1922 als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg. In 220 lose zusammenhängenden Szenen, die vielfach auf authentischen zeitgenössischen Quellen beruhen, wird die Unmenschlichkeit und Absurdität des Krieges dargestellt.


Paulus Manger brachte das Stück 2018 in die Serbenhalle Wiener Neustadt: Zum Jahrestag des Kriegsendes 1918 inszenierte er im ehemaligen KZ und Waffenfabrik (die Halle wurde von den Nationalsozialisten in Serbien ab und in Wienert Neustadt aufgebaut - daher der Name Serben Halle)  insgesamt 75 Szenen des Dramas simultan an über zwanzig Schauplätzen.​

Es war DAS Theaterereignis des Jahres. Die Aufführung wurde 2019 in einer noch längeren Fassung wiederholt und 2020 in der Alten Remise in Wien Meidling wieder aufgenommen. Drei Saisonen lang durften Pamina und Fabio in diesem gigantischen Stück als Thronfolger Kinder und Internatskinder mitwirken. Heuer besuchten wir die Produktion in Berlin, in der Belgienhalle in einer noch erweiterten Fassung mit noch mehr Szenen: Genial… Gratulation Paulus Manker, ein unvergessliches Erlebnis für uns alle …

„Der Minister“ von Stefan Bošković

„Das Ministerium tötet die Künstler“. Eine Schlagzeile, die dem montenegrinischen Kulturminister Valentino Kovačević alles andere als gelegen kommt, denn es ist keine beliebige Metapher. Im Spannungsfeld zwischen einem beruflichen und einem privaten Todesfall wird der Minister herumgewirbelt – vor sich die strahlende Perspektive auf Anstellung bei einer EU-Institution, hinter sich die dunklen Mächte patriarchaler und kirchlicher Vetternwirtschaft. Auf filmische Weise werden an neun erzählten Tagen zahlreiche Facetten des literarisch noch weitgehend unbekannten kleinen Landes ausgeleuchtet und in Szene gesetzt. Auf die Ereignisse blicken wir durch die Augen des Ministers höchstpersönlich. Seine Gedanken und Gefühle, jedes Zipperlein erleben wir beim Lesen hautnah mit – und betrachten ihn trotzdem mit kritischer Distanz, während er auf den Abgrund zurast. Oder doch nur auf den nächsten Posten mit hübscher Aussicht?


Stefan Bošković (*1983 in Podgorica) ist Dramaturg am montenegrinischen Nationaltheater und Dozent an der Fakultät für Darstellende Künste. Als Schriftsteller ist er für den pornografischen Roman Šamaranje (2014) und die Kurzgeschichtensammlung Transparentne životinje (2018) bekannt. Bošković ist auch in anderen Genres tätig, er hat Drehbücher für Theaterstücke, Spiel- und Kurzfilme, Sitcoms und Dokumentationen geschrieben und ist Gründungsmitglied einer alternativen Theatergruppe. Der Minister wurde 2020 mit dem Literaturpreis der EU und 2021 mit dem CEI Award for Young Writers ausgezeichnet und ist einer der ersten auf Deutsch veröffentlichten montenegrinischen Romane der Gegenwart.

Ismael Kadare und „Spiritus“

Ismail Kadare gilt als der international erfolgreichste und meistübersetzte albanische Autor. Häufiges Thema seiner Romane ist das Leben in totalitären Regimen, oft in einem historischen Kontext verwoben. Kadare vertritt die Auffassung, die Albaner seien eine westliche Nation, deren geistig-kulturelle Basis das Christentum sei; den Islam charakterisierte der konfessionslose Schriftsteller als eine, den Albanern während der osmanischen Herrschaft aufgedrängte Religion mit überwiegend negativen Folgen für sie.


In den 1990er und 2000er Jahren wurde er mehrmals von Parteiführern der Demokratischen Partei Albaniens und der Sozialistischen Partei Albaniens sowie von Personen, die das Regime verfolgt hatte, gebeten, Präsident Albaniens zu werden, was er stets ablehnte. Kadares Ehefrau Helena ist ebenfalls Schriftstellerin, seine Tochter Besiana studierte Literaturwissenschaften an der Sorbonne und war Botschafterin Albaniens in Frankreich. Seit Juni 2016 ist sie ständige Vertreterin Albaniens bei den Vereinten Nationen und Botschafterin in Kuba.


In "Spiritus" widmet sich Kadaré einem besonders heimtükischen Kapitel der Gewaltherrschaft unter Enver Hodscha: dem perfekten Überwachungsstaat. Doch es ist nicht die Banalität des Bösen, die den Literaten interessiert. Er entwirft stattdessen ein phantastisches Szenario, das die verbriefte Realität der Abhörexzesse in den Kontext der mythenreichen Geschichte des Landes setzt.

„Das Walnusshaus“ von Miljenko Jergović

Im Jahr 1905 erhält der Holzschnitzer August Lišcar einen ungewöhnlichen Auftrag: Er soll ein passendes Spielzeug für das ungeborene Enkelkind eines Mannes aus Dubrovnik anfertigen. Aus Walnussholz fertigt der Schnitzer schließlich das verkleinerte Abbild des Hauses der Familie seines Auftraggebers, samt Einrichtung und Bewohnern. Ein großartiges Geschenk für die kleine Regina. Doch das alles erzählt Miljenko Jergović erst viel später! Denn die Geschichte um das Walnusshaus beginnt in der Gegenwart, auf einer Polizeistation, wo sich eine gelangweilte Beamtin mit den ungewöhnlichen Umständen des Todes der „verrückten Manda“ konfrontiert sieht – die keine andere ist, als jene 1905 geborene Regina Sikirić.


Zwischen diesen beiden Episoden spielen die Lebens- und Liebesgeschichten mehrerer Generationen, die Miljenko Jergović meisterhaft zu einem grandiosen Familienroman zusammenführt. Der Leser wird in die hochpolitische und dramatische Historie des Balkans von der Ablösung der osmanischen Herrschaft bis zur Bombardierung Dubrovniks zu Beginn der 90er Jahre geführt.

Miljenko Jergović (* 28. Mai 1966 in Sarajevo) ist ein bosnisch-herzegowinischer und kroatischer Schriftsteller, Dichter und Essayist, der vornehmlich in kroatischer Sprache schreibt.


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